Der lange Frühlingsspaziergang

Shownotes

Winterkoller und Flucht vor dem grauen Himmel Barbarazweige schneiden Frühlingsboten Mein langer Frühlingsspaziergang dauert Wochen Krokuse und Berliner Wunderlauch Die erste Handvoll Wildkräuter Frühlinggrünes Laub Frühling erleben und feiern

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Der lange Frühlingsspaziergang

Ich bin ich ein „Jahreszeitenmensch“. Ich beobachte die Veränderungen in der Natur, das Kommen und Gehen im Lauf der Jahreszeiten. Anfang des Winters, freue ich mich über mehr Zeit in meiner Wohnung. Ende des Winters fällt mir das Warten auf den Frühling zunehmend schwer. Ich mag keinen grauen Himmel mehr, schon gar keinen Hochnebel oder kalten Wind im Gesicht. Gegen alle Erfahrungswerte beginne ich die Hoffnung zu verlieren, dass die kalte Jahreszeit je wieder endet.

Nun helfen mir Frühlingsboten. Ich beginne schon im Dezember mit dem Aufstellen von im Garten geschnittenen Barbarazweigen. Sie treiben grüne Blätter, meist nicht an Weihnachten, sondern dann wann sie wollen. Mancher Zweig beginnt zu blühen oder Wurzeln zu schlagen. Ende Februar pflanze ich ein paar gekaufte, blühende Primeln oder Narzissen auf den Balkon – sie können durchaus leichten Frost aushalten – und mit der Farbe kehrt die Hoffnung auf den Frühling zurück.

Doch das Warten ist schwer und manchmal überkommt mich das unbändige Bedürfnis vor dem Grau wegzulaufen, sofort! In einem grauen Januar streiche ich unser ganzes Wohnzimmer in „FRÜHLINGSWIESENGRÜN“, drei Tage lang, und höre dazu Momo. Einmal sind wir deshalb nach Gomera geflogen, um im Februar wandern zu können. Ökologischer Schwachsinn, aber in dem Moment genau richtig, auch wenn es im dauernebligen Lorbeerwald auf der Insel feucht und kalt war. Da mussten wir wirklich weiter und weiter wandern um nicht auszukühlen.

In Asien trafen wir einmal ein italienisches Paar, dass sich diese „Fluchten“ zum Lebensstil gemacht hat. Sie arbeitet im Sommer in Italien hart als Bademeisterin, er in einer Fabrik für Tierfutter. Die kalte Jahreszeit verbringen sie regelmäßig in Asien. Sie reisen und lassen sich die Sonne scheinen. Bei unserem zufälligen Treffen auf einer Bootsfahrt hat der Mann so lange von den Pizzabackkünsten seiner Frau geschwärmt, für die er eine eigene Pizzabackküche gebaut hat, dass wir sie Jahre später in Norditalien besucht haben.

Also besser in einem Land leben ohne Winter? Auf keinen Fall, den nichts ersetzt mir die Freude am ersten Frühlingsgrün. Kommt der Frühling auf leisen Sohlen, gibt es über zwei oder drei Monate Frühlingsboten zu beobachten. Es fängt klein an, Kräuter und frühe Blüher, die aus der Erde gucken. Dann darf knöchelhoher Wunderlauch – eine in Berliner Wäldern verbreitete Bärlauchart - geerntet werden, noch mit froststarren Fingern. Im Garten blühen derweil die Krokusse, selbst erste Bienen naschen bei den lila Frühlingsboten.

Ein besonderer Moment ist für mich das Pflücken des ersten Frühlingskräutersalates: Während in „ordentlichen“ Gärten die Beete noch fein geharkt leer stehen, treibt im naturnahen Garten die Barbarakresse kleine, dunkelgrüne Rosetten. Der Geschmack der Blätter ist intensiv und scharf. Dazu ein paar zarte Halme des ersten Schnittlauch und wenig hellgrüne Blätter des Giersch. Von einer Gartennachbarin bekomme ich die türkischen Mendekpflanzen, deren noch hellgrüne Triebe dem Ganzen eine zitronige Note geben. Ziemlich viel Geschmack und jede Menge Kraft steckt in dieser ersten handvoll (Wild)kräutersalat. Die kann mein Körper nach einem langen Winter gut brauchen. Es ist für mich ein besonderes, meist ziemlich frostiges Festmahl mit mir selber.

Doch mein langer Frühlingsspaziergang geht weiter. Die „Heckenphase“ beginnt bei uns ums Eck immer vor einem ziemlich düsteren Hortbau. Da stehen gut geschützt, etwas unmotiviert gepflanzte und jeweils rabiat gestutzte Büsche. Doch welche Freude, wenn sich an diesen die ersten zarten Blätter auf Augenhöhe entfalten. Es sind fürmagische Wochen, wenn Tag für Tag immer höhere Sträucher und Bäume ihr Laub hervorzaubern. Gerade noch standen die Zweige dunkel und strukturstark vor dem grauen Himmel. Und dann, völlig lautlos – und manchmal über Nacht – tragen die Bäume ihr frühlingsgrünes Blätterkleid. Wo kommen die Kubikmeter an Blattmasse so plötzlich her? Mein Kopf kennt die Biologie, meine Seele darf weiterhin über diesen Zauber der Natur staunen.

Am Küchenfester sitzend, verschwinden nun nach und nach immer mehr Häuser aus dem Blickfeld. Die saftig hellgrünen Baumkronen lassen mich vergessen, dass wir in der Stadt wohnen. Zu guter Letzt entfalten die mächtigen Sommerlinden und die Robinien ihre Blätter. Ihr helles und noch ganz zartes Grün strahlt. Schön ist es an einem solchen Tag durch die Straßen zu streifen und dem Rauschen der gewaltigen Blattmassen zu lauschen. Ich bin am Ende meines langen Frühlingsspazierganges angekommen.

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